Anlage:Jazzfest Berlin
IMPRESSIONEN
Westberliner JAZZFEST '86
Das aus den 1964 errichteten (West-) Berliner Jazztagen nahtlos weitergeführte Jazz Fest, unter der künstlerischen Leitung des namhaften George Gruntz aus der Schweiz, präsentierte Ende 1986 seinen 23. Jahrgang. Das international hochbewertete Festival entwickelte sich vorn anfänglichen Podium großer Namen und Stars mit konsequenter Kontinuität zu einem Schaufenster der musikalischen Haupt-, Neben-, Kreuzungs- und Beeinflussungslinien des Jazz (selbstredend unter Einbeziehung auch prominenter N a m e n neben neuen, unbekannten). Solch tiefenlotende, durchaus abenteuerliche Zielstellung, die kausal mit neuer Qualität auch erweiterte Quantität der Veranstaltung beinhaltet, führte auch zu räumlichen Erweiterungen; so standen 1986 mit dem seit Anbeginn als „Kern" fungierenden großen Konzertsaal der Philharmonie insgesamt fünf Plätze zur Verfügung. An vi e r Tagen gab es achtzehn Konzerte, an denen 22 Ensembles (Duo bis Big Band) und 27 Solisten (darunter 17 Posaunisten und vier Saxophonisten innerhalb der FMP, Free Music Produktion-Veranstaltungen) aus aller Welt mitwirkten. Das musikalische Spektrum enthielt mannigfaltige Facetten von der tradierten Moderne bis zur Total Music und schloß Varianten wie Pop, Rock, Country, Folklore, Gospel und ethnische Ritualmusik organisch ein. Unter den thematischen Schwerpunkten (Gruntz nennt sie Programmschienen) besaßen Jazz aus d er Karibik, SoloPiano sowie (allnächtlich bei der FMP) Trombone Music besondere Gewichtigkeit. Der Part Trombone Music präsentierte vornehmlich hochinteressante Soloartikulationen (leider nur selten kollektive Begegnungen), wobei unter den 17 international hochbewerteten Solisten unsere Posaunen-Brüder Konrad und Johannes Bauer mit virtuoser Qualität beeindruckten. An den FMP-Saxophone Specials, die an zwei Nachmittagen stattfanden, nahm mit Dietmar Diesner ein weiterer Exponent des zeitgenössischen DDR-Jazz teil. Karibik-Jazz ist zwar kein Novum, doch verfehlte das rhythmisch komplexe, vitale Musikantentum aus erster (!) Hand nicht seine zupackende Wirkung. Hierfür sorgten mit unterschiedlichen Haltungen: Proyecto unter Leitung des grandiosen kubanischen Pianisten Gonzalito Rubalcaba, das Michel Camilo Sextett, der Caribbean Jazz Workshop, Kubas führende Jazzformation Irakere, das Sextett des (mit Irakere bekanntgewordenen) Trompeten-,,Weltwunders“ Arturo Sandoval (dessen phänomenale Tonkraft und Höhenartistik allerdings jegliches Jazzfeeling eliminiert) und nicht zuletzt die Jamaican Band des weltbekannten Piano-Stars Monty Alexander. Ihre enorm swingende, anspruchsvolle Perfektion mit Simplizität verblüffend mengende Karibik -Jazz-Mixtur wurde von Ovationen begleitet. Auf dieser speziellen Strecke die Entdeckung: der Solopianist Chyco Jehelmann aus Martinique. Seine·eigenwillige, ideenreich-virtuose Vortragskunst verleiht ihm den Charakter des Außergewöhnlichen, hierin vergleichbar dem sowjetischen Pianisten Leonid Chizhik, dessen absolut eigenständiges Metamorphosen-Spielkonzept (ständiges improvisatorisches Fließen/Pendeln zwischen der klassischen Romantik und der gesamten stilistischen Palette des Jazz-Pianos) die Philharmonie mit Beifallsstürmen erfüllte. Während die bestens bekannte Konzeption des holländischen Willem Breuker Kollektief erneut voll ins Schwarze traf, gelang eben das dem hochkarätig international besetzten, von Alexander v. Schlippenbach geleiteten Globe Unity Orchestra (mit Ernst-Ludwig Petrowsky), das seinen 20. Geburtstag beging, bedauerlicherweise nicht. Lag es an der zu weit vorgerückten Stunde, an mangelnder Inspiriertheit oder etwa an der mittlerweile zu „selbstsicher" gewordenen exerzierten Konzeption? Mich stimmte der Auftritt irgendwie traurig, ebenso wie der (äußerlich durchaus heitere) des knapp achtzigjährigen, einst mit Armstrong verglichenen Hot- und Swingtrompeters Jabbo Smith, der (vor Schwäche sitzend) mit offensichtlicher Mühe und geradezu rührend einige Evergreens sang und schließlich mit Don Cherry (dem berühmten Avantgarde-Trompeter), von dessen Gruppe er erstaunlich stil-nah begleitet wurde, sogar einige Scat-Chorusse wechselte - und strahlend, fast ein wenig verlegen, die herzlichen Bekundungen des Publikums genoß. Übrigens, daß das Don Cherry Quintet exzellenten NeoBop interpretierte, war eine jener Überraschungen, für die amerikanische Jazzmusiker bekanntermaßen immer gut sind. Nur Uneingeweihte jedoch konnten über den „Erz-Jazzpianisten" Herbie Hancock, wohl den Star des Festivals, in Staunen geraten. Er war außer in seinem Quartett noch ein weiteres Mal präsent: als Arrangeur/ Komponist / musik. Leiter /Pianist des am Vorabend des Festivals zur Premiere gekommenen französischen Films „Round Midnight“ von Bertrand Tavemier, in dem Tenorsaxophonist Dexter Gordon in seiner ersten, wahrhaft „gelebten" Schauspieler (Haupt-)Rolle zu sehen ist. In diesem Spielfilm , der wohl erstmals wahrheitsgetreue in Musikerleben in der verblüffend authentisch gezeichneten Sphäre des Modem Jazz der 50er Jahre, unter Mitwirkung vieler prominenter Musiker, schildert, gelangt der Jazz zu tief bewegender (aber wohl nur dem Vertrauten gänzlich zugängiger) Selbstdarstellung. Unmöglich, das prallgefüllte Festival umfassend zu reflektieren. Mich beeindruckten besonders der die moderne Big-Band-Tradition reflektierende exzellente Auftritt der WDR-BB unter Jerry van Rooyen mit den international bekannten Gastsolisten Bob Brookmeyer (v-tb), Kenny Wheeler (tp , flh), Jim McNeely (p), Trilok Gurtu, (perc) und - mit seiner unaufdringlichen Swing-Stimulanz seit Jahrzehnten ein Phänomen - Mel Lewis (dr). Daß 27 (!) zu einer SWING-Mammut-Band zusammengeführte Solisten der britischen Modern/Avantgarde-Elite (6 tp, 4 tb, 10 saxes, p, vib, 3 b, 3 dr ), womit sich - hoch oben im Zentrum agierend – Rolling Stones-Schlagzeuger Charlie Watts aus eigener Brieftasche einen langgehegten Wunschtraum erfüllt hat, ein sensationelles Spektakulum bedeuten, steht außer Frage. Aber bei diesem Potential sind mir bloße Kraftballungen und vitale (durchaus erstklassige) Chorus-Gefechte vor allzu simplen Riff-Arrangements zu klassischen Swing-Nummern einfach zu wenig. Schade. Hingegen ganz anders das ebenfalls in London seßhafte Loose Tubes-Orchester mit seinen 21 blutjungen Talenten, das ohne Respekt vor stilistischen Kategorien, frappierend ideenreich und gewitzt, in mitreißender (laut bejubelter) Manier wahrlich Musik des HIER UND HEUTE intoniert. Ähnlich der Eindruck von Lester Bowie 's Brass Fantasy, seiner neunköpfigen Blech-Band, deren grandios umgesetzte Great Black MusicKonzeption die buntschillernde Revue-Kostümierung fast vergessen ließ. Ganz der Great Black Music verpflichtet waren auch die (sehr unterschiedlichen) Gospel-Auffassungen des mit neuen gesanglichen und textlichen Aspekten überraschenden, in Atem haltenden Acapella-Damenquintetts Sweet Honey In The Rock; ebenso ein 17 -köpfiges, aus gemischtem Chor und Rhythmusgruppe bestehendes Gospelensemble unter Leitung des Altsaxophonisten Vernard Johnson, der (bislang beispiellos) auf seinem „Sanctified Sax " mit hymnischer Beseeltheit die Rolle des Vorsängers zelebrierte - ein „Außenseiter-Konzert" mit für mich besonders nachhaltigem Eindruck. Karlheinz Drechsel
Aus Unterhaltungskunst, Heft 1/87, S. 23.