Anlage:15. September 2008 Coldplay

Aus Rockinberlin
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  • Bericht von Kai Müller im tagesspiegel vom 17. September 2008

"Coldplay in Berlin: Die Herzhitmacher
Klageballaden und Krachgewitter: In der Berliner O2-World geben sich Coldplay Mühe, tatsächlich als das zu erscheinen, was sie kommerziell längst sind: die größte Band des Jahrzehnts.

Popsongs, die ans Herz gehen, sind ein Rätsel. Selbst für jene, die sie spielen. Für Jonny Buckland ist „Clocks“ jedenfalls eine Mahnung, den Mund zu halten. Als ihm sein Freund und Bandleader Chris Martin das Stück am Piano erstmals vorspielte, hielt der Gitarrist es für absoluten Mist. Aber er sagte nichts. Stattdessen verwettete der Produzent seinen Hut darauf, dass der Song niemals einschlagen würde. Heute läuft der Mann barhäuptig herum, denn „Clocks“ wurde ein Hit, einer von vielen, die Martin und seine Band Coldplay seit ihrem Durchbruch vor acht Jahren geschrieben haben. Das britische Quartett ist sogar im Stande, selbst einen nasskalten Montagabend mit seinem Repertoire zu veredeln.

In der Berliner O2-World geben sich Coldplay allerdings viel Mühe, tatsächlich als das zu erscheinen, was sie kommerziell längst sind: die größte Band des Jahrzehnts. „Clocks“, das in der Bandgeschichte die Hinwendung zu pulsierenden Grooves markiert, kommt als brachiale Beat-Walze daher – das Ticken der Uhren zum mechanischen Fanal angeschwollen. „God put a smile upon your face“ wummert als Techno-Version durch die Arena. „Lovers in Japan“ geht in blechernen Krachgewittern unter. Überhaupt erscheint hier alles aufgebürstet, gehärtet und sandgestrahlt. Tränenselige Momente gibt es wenige. Sänger Chris Martin dringt mit seinen Melodien nicht durch, das Herz bleibt unberührt vor lauter Ehrgeiz der Musiker, mitreißend zu sein. Der Frontmann geistert durch die Lagen seiner Stimme, als suche er einen Lichtschalter.

Auf der Bühne trägt der 31-jährige Brite, der mit Hollywoodstar Gwyneth Paltrow verheiratet ist und den der „Rolling Stone“ unlängst zum „Jesus of the Uncool“ ausrief, wie üblich abgerissene Uniformjacke und –hose, auf einen Ärmel sind bunte Bänder genäht. Die Haare kurz geschoren, vermittelt Martin den Eindruck des Antirock-Asketen. Gebannt folgen die 16 000 Zuschauer dem eineinhalbstündigen Treiben eines sich ständig exaltiert gebärdenden, hopsenden und Komplimente verteilenden Mannes, der selbst bei ruhigeren Passagen, allein am Klavier, nie ganz bei sich ist. „Talk“, den besten Song, den er je geschrieben hat, bricht er im Refrain ab. „Ich frage mich, was das alles soll“, singt er in „The hardest part“ – und erntet frenetischen Jubel.

Es sind solche Daseinsbetrachtungen, die Coldplay für viele Fans zur Herzensangelegenheit machen. Dabei tritt das Problem dieser Band im Licht ihrer vierten Platte „Viva La Vida“, deren polyrhythmisches Gedonner den Hauptteil des Abends trägt, nur umso deutlicher zutage. Coldplay ist nicht nur ein Bandname, sondern eine Methode. Ein kaltes Tun. Da wird zum Auftakt die Parole „Live in Technicolor“ ausgegeben, flirrende Gitarrentöne und Chöre inbegriffen, aber die folgenden Songs sind ohne Mitte und Wärmepol. Ihr Glutkern fehlt. Die wehmütigen Melodien verdampfen über modalen Klangflächen.

Zurück bleibt die Pose einer Band, die im Post-Hippietum versackt. Für eine Akustik-Version von „The Scientist“ lassen sie sich – spektakulär – auf die Gegentribüne führen, wo sie sich wie Straßenmusiker unters Volk mischen. Das von Drummer Will Champion gesungene „Death Will Never Conquer“ beschließt die kurze Dylan-Phase. Gitarrist Jonny Buckland kopiert unverholen die Gitarrensounds von U2, um seinem Spiel mehr Nachdruck zu verleihen. Aber die Klarheit und Wucht von Bono & Co ist Coldplay fremd. Die „New York Times“ nannte die Band deshalb „unerträglich“. Ein bisschen kann man das Urteil verstehen. Obwohl es vier junge Burschen trifft, die tiefe Dankbarkeit dafür empfinden, überhaupt bejubelt zu werden.

Aber sie haben kaum Substanzielles zu sagen. Dass Rockmusik sich heute nicht mehr aus der Rebellion speist, sondern Freiheit bedeutet, ist ein armseliges Credo. „I don't want to cycle, recycle revenge“, singt Martin zum Abschluss in „Death and all his friends“. Das ist gut gemeint, als Kommentar zur Gewaltspirale eines überall aufflammenden Terrors aber etwas dürftig."