Anlage:25. März 2010 Peter Gabriel

Aus Rockinberlin
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  • Bericht von Kai Müller im tagesspiegel vom 26. März 2010

"Kultur: Doktor Psycho<br< Man kennt ihn als Suchenden, als unruhigen Geist und Perfektionisten, der sich Monate lang mit einem Rhythmus auseinandersetzt und nie fertig ist – mit sich. Peter Gabriel schreibt nicht einfach nur Songs.

Man kennt ihn als Suchenden, als unruhigen Geist und Perfektionisten, der sich Monate lang mit einem Rhythmus auseinandersetzt und nie fertig ist – mit sich. Peter Gabriel schreibt nicht einfach nur Songs. Er verarbeitet Träume, wälzt Lasten ab und scheint lange, lange noch, nachdem er sich in Therapiesitzungen tatsächlich mit verborgenen Seelenschmerzen auseinandersetzte, im Bann dunkler Mächte zu stehen, die er in etwas Funkelndes verwandeln will. Er sieht traurig aus.

Dass Peter Gabriel jetzt für zwei Abende ein 50-köpfiges Orchester nebst Videoleinwänden und aufwändiger Tricktechnik in die O2-World gewuchtet hat, dass er mal wieder allen anderen im Metier des Großarenenpop vorauseilt mit seiner visionären, technikbegeisterten Verknüpfung von Klang und optischem Effekt, all das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der 60-Jährige verstummt ist. Gewissermaßen austherapiert. Das ist die Ausgangslage für das mit Spannung erwartete Konzert, das ausdrücklich mit dem Hinweis „No Drums, No Guitars“ angekündigt wurde und Menschen massenweise in die Halle treibt, die kaum wissen, was sie erwartet.

Seit 18 Jahren hat Gabriel kein Album mehr veröffentlicht, das nennenswert gewesen, weil dem inneren Dämonen abgetrotzt worden wäre. Nach den Songs „Digging In The Dirt“ und „Love To Be Loved“ hatte Gabriel alles Wesentliche über sich selbst als zuneigungssüchtigem Egomonster gesagt – und später mit „Growing Up“ nur noch einmal ein sympathisches Polaroid-Liedchen über die Unmöglichkeit nachgeliefert, der Kindheit zu entwachsen. Alles weitere waren Elemente aus dem Gabriel-Setzbaukasten. Die neurotische Spannung war dahin, die Wut des Erfindersohns auf Tierversuche, Rassendiskriminierung und seine eigenen Versagensängste verraucht.

Als ihm Ende der neunziger Jahre auffiel, dass er sich über beinahe alle emotionalen Ausnahmezustände schon verbreitet, nur über den Tod noch keinen Song geschrieben hatte, holte er genau das eben nach. Wie ein Projekt. Was hätte da folgen sollen? Projekte sind das Gegenteil von guter Musik und von Ewigkeitsmomenten.

„Scratch my Back“ ist gefolgt, ein Album mit Coverversionen: ein beredtes Schweigen. Oder soll man es ein verschwiegenes Reden nennen? Gabriel kam die Idee für einen Blutaustausch. Er bot anderen Musikern an, ihre Songs neu zu interpretieren, wenn sie dasselbe mit seinen täten. Statt jedoch Stücke wie „Heroes“ von David Bowie, „Mirrorball“ von Elbow sowie Bon Ivers „Flume“ durch die Beat-Maschine zu drehen, sind orchestrale Balladen entstanden, die alles Poppige verloren haben und den Sänger vor allem als Fährtensucher im unwägbaren Gewölk klassischer Pizzicato-, Legato- oder Pianissimo- Klänge zeigen. Da Rauschen die Becken, wummern Pauken, da berauschen sich die Streicher an schäumenden Akkordwogen, während Hörner und Trompeten Signale aussenden. Um das Griffige eines guten Popsongs geht es dabei nicht.

Aber um was geht es dann? In Berlin tritt Gabriel mit weißem Resthaar und in gewiss komfortablem, aber eigentümlich formlosem Schlabberlook vor seine Gemeinde. In seiner anstrengungslosen Nonchalance ähnelt er einem New-Age- Guru, als er vom „großen Abenteuer“ erzählt, das den Anwesenden bevorstünde. Denn, so seine Ankündigung, man werde den Songreigen gegen den Trend der digitalen Zersplitterung als geschlossenes Werk aufführen. Mit Pause. Was in den dann folgenden drei Stunden unter psychedelischen Farbenspielen vor sich geht, ist allemal ungewöhnlich. Kommt in dem symphonischen Brausen, Flirren und Wogen des Orchesters doch die Sehnsucht nach einer sublimen, kultivierten Dramatik zum tragen, die immer stärker auch von Popsongs verlangt wird. Früher brauchte Gabriel dafür kein Orchester.

Dass der Mann die Texte abliest und auch sonst nach Absicherung sucht, zeigt zwar, wie fremd ihm nach wie vor die von ihm selbst entfesselte Dynamik in den Songs von Lou Reed, Neil Young, Arcade Fire, Radiohead und anderen ist. Trotzdem haben sie natürlich vor allem mit Gabriel selbst zu tun. Jedenfalls dürfte er ein Stück wie „The Boy In The Bubble“ von Paul Simons legendärem „Graceland“-Album nicht der Melodie wegen ausgesucht haben. Von der ist nämlich kaum etwas wiederzuerkennen, während die Pianoakkorde als Lichtsignale auf der bühnenbreiten LED-Fläche aufleuchten wie Botschaften an eine außerirdische Intelligenz. Der Song über den Terror von Bürgerkriegen und die Art, wie wir uns gegen die Schreckensmeldungen aus den Medien abschotten, berührt Gabriels politische Ader. „Baby, don’t cry“, singt er mit Furor. Vielleicht rührt die Traurigkeit in seinem vom Alter gezeichneten Gesicht auch daher, dass er um die Vergeblichkeit dieses Satzes weiß.

Im zweiten Teil des Abends folgt das Unvermeidliche. Da spielen sich Gabriel und das New Blood Orchestra durchs Hit-Repertoire des Künstlers, um auszuloten, wie viel Drama, Konflikt und Poliphonie in „San Jacinto“, „Blood Of Eden“, dem famos pulsierenden „Rhythm Of The Heat“ oder „Don’t Give Up“ steckt. Das ist toll, doch leider ist es das auch aus den falschen Gründen. Es fehlt etwas, was immer fehlt, wenn Orchester die expressive Kraft von Popsongs disziplinieren. Bei „Solsbury Hill“ platzt das Ventil. Die Halle tobt. Das ist Pop."